Grundsätzliche Überlegungen (nicht nur) zur zeitgenössischen Musik
Nichts,
in der Entwicklung
dieser Welt, ist für sich
allein zu verstehen.
Rupert Riedl:
Zufall, Chaos, Sinn
Wien-Stuttgart 1999
In der – verwirrenden – Situation, auf das 20. Jahrhundert und damit
– in gewisser Weise – auf die Moderne nun ZURÜCK zu blicken,
lassen sich (nicht nur in der Musikwelt) schon länger zwei – anscheinend
unaufhaltbare – Phänomene beobachten:Spezialisierung
und Globalisierung.
Zum einen spaltet sich unsre
hochentwickelte Welt in immer kleinere Einheiten. Die Vielfalt der Sparten wird
größer, das Publikum scheint in immer kleinere Gruppen zu zerfallen.
So begrüßenswert sich diese Buntheit – als ein Mehr an
Freiheit – zunächst darstellt, (da sie jeden auf seine eigene Weise
glücklich werden läßt,) so sehr birgt sie doch in letzter Konsequenz
die Gefahr großer Belanglosigkeit. Denn: Auch musikalische Werte (und
die Freiheit der Kunst !) unterliegen den Prinzipien der Inflation.
Analog zur Geldentwertung wird aus einem Mehr (oder Zuviel ) womöglich
ein Beinahe-gar-nichts. Wenn die Palette der kulturellen Möglichkeiten
unüberschaubar wird, sinkt unvermeidlich die Kostbarkeit einzelner Inhalte
und Veranstaltungen. Und: der hohe Wert künstlerischer Freiheit –
über Jahrhunderte heroisch errungen – verflüchtigt sich ebenso,
wenn ohnehin alles erlaubt und ermöglicht ist, (eben im Rahmen des jeweils
passenden Spezialpublikums.)
Seltsamerweise resultiert
aber auch das scheinbar gegenteilige Phänomen, die Globalisierung,
durch kulturelle Vereinheitlichung in einer Verringerung von Werten:
Der ökonomische Druck, aus Effizienzgründen Massenware herzustellen,
verlangt Produkte, die dem kleinsten gemeinsamen Nenner (positiv formuliert:
den archaischen Ur-Mechanismen) der Konsumenten entsprechen, was wiederum zu
inhaltlicher Verarmung führen muß.
Welche Schlußfolgerungen lassen sich ziehen, wenn die Gefahr des Werteschwundes
offensichtlich an beiden Extremen – höchster Spezialisierung und tiefster
Nivellierung – lauert?
Zum einen muß – selbst in unserer von Marketing dominierten Welt
– festgehalten werden, daß es – immer – einen Zusammenhang
zwischen der inhaltlichen Beschaffenheit einer „Ware“ und ihrem Erfolg
gibt. (Verkaufstechnik kann ein notwendiger, aber nie ein hinreichnder Faktor
für den nachhaltigen Erfolg von Kunstwerken sein.) Wenden wir uns deshalb
zunächst an die Komponisten, vorallem jene, die – ob
zu recht oder unrecht – über mangelndes Interesse und Verständnis
seitens der Veranstalter, des Publikums, der Politik etc. klagen. Sie könnten
versuchen, verstärkt einen differenzierteren Umgang mit ihrer künstlerischen
Freiheit zu entwickeln, ein „...Pendeln ... zwischen Unverwechselbarkeit
und Zugehörigkeit, dem Bedürfnis, sich frei zu bewegen und doch verstanden
zu werden, eben dem nach Freiheit durch Geborgenheit." Müßte
es nicht noch viel mehr als Herausforderung angesehen werden, seine – unverwechselbaren,
freien, visionären, anspruchsvollen Inhalte vermehrt in eine Form zu bringen,
die möglichst universell verstanden und geschätzt werden kann? Selbst
wenn das eine gewisse Reduktion der Spezialisierung und Individualität
bedingte – zugunsten von Inhalten, welche die ganze Bandbreite menschlicher
Existenz betreffen. Vielleicht wäre es besser, sich NICHT so sehr durch
Beschränkung auf EINE Sparte von Inhalten zu profilieren? (Ohne gleich
wieder ins andere Extrem der wahllosen Vermischung zu fallen, was ja erst recht
wieder Inflation bedeuten würde. Nochmals: Die Gefahr des Wertschwundes
lauert stets an beiden Extrempositionen !) Weiters: wäre es nicht entscheidend,
verfeinerte Wege des Komponierens zu finden, die es (wieder) erlauben, Musikstücke
zu schaffen, die auf unterschiedlichstem Niveau genossen werden können,
die mit verschiedensten Graden der Aufmerksamkeit konsumierbar sind und die
menschliche Wahrnehmung möglichst breit ansprechen, (was ja eines der Erfolgsrezepte
historischer tonaler Musik war und ist.) Und: Sollten nicht gerade auf dem Gebiet
der Musik die – ohnehin fragwürdigen, vermeintlichen – Grenzen
zwischen Verstand und Gefühl, zwischen Intellekt und Archaik weitgehend
ignoriert und permanent überschritten werden ? Sollte ein Werk nicht grundsätzlich
auch ohne lange Erläuterungen zumindest einen fundamentalen Teil seiner
Wirkung erzielen können? Aber dann auch durch wiederholtes Hören oder
Erklärungen einen vielschichtigeren Zugang bieten ? Können wir uns
von jener Zuordnung trennen, die fortschrittlich prinzipiell mit experimentell
oder extrem gleichsetzt? Daß Neues immer nur durch stetige
lineare Weiterentwicklung in einer einmal eingeschlagenen Richtung zustande
kommt, ist wohl genauso ein Irrtum, wie, daß ein simples Zurückbleiben
in traditionellen Schreibweisen es zuließe, neue Werte zustande zu bringen.
(Daß Wiederholung, das „Aufwärmen alter Hüte“, Inflation
bedeutet, muß nicht weiter erläutert werden.) Jede Epoche muß
ihr Neues, ihre Ziele (auf der Basis des status quo) neu definieren,
möglicherweise erstreiten. Hier ist jedenfalls noch viel zu tun. (Und das
ist doch wunderbar ! )
Während es seitens der Komponisten darum geht, der Inflation von Freiheit
und der damit verbundenen Belanglosigkeit entgegen zu steuern, muß umgekehrt
an die Veranstalter, Produzenten, Kulturpolitiker – letztlich
an uns alle im demokratischen Gefüge – appelliert werden, sich der
großen Verantwortung bewußt zu werden, gegen die übermächtige
scheinende Globalisierungstendenz in der Vermarktung entschieden aufzutreten,
und die kulturelle, inhaltliche Erosion aufzuhalten. In der Landwirtschaft wissen
wir längst Bescheid über fatale Folgen einseitiger, kurzsichtiger
Bewirtschaftung, die nur auf schnellen finanziellen Nutzen aus ist. Differenzierung
ist eine Überlebensbedingung komplexer Systeme , erklären uns
die Biologen. Auch die kulturelle Monokultur kann durch ein einziges „Virus“
zugrunde gehen. Eine umsichtige (nicht wahllose) Vielfalt und Durchmischung
der Inhalte von Veranstaltungen wäre ebenso wichtig wie ein vorausblickende,
vielschichtige Förderung des Nachwuchses. Auch auf dem Feld der Kultur
darf man letztlich nicht ungestraft einseitig vorgehen, skrupellosen Raubbau
betreiben, die Schätze der Vergangenheit bis ins letzte verscherbeln, an
Gegenwärtigen in erster Linie ein paar willkürlich definierte, leicht
und schnell verkaufbare shooting stars anbieten und dabei die Notwendigkeit
breiter, nachhaltiger Entwicklung „übersehen“. Irgendjemand wird
diese offenen Rechnungen später zu bezahlen haben, die durch mangelde Skepsis
gegenüber dem leichtfertigen Erfolg zustandekommen.
Könnte das Neue des 21. Jahrhunderts zunächst darin
liegen, daß es weniger um das Finden weiterer ungeahnter Extreme und um
das gnadenlose markt-technische Ausquetschen kultureller (und anderer) Ressourcen
geht, als vielmehr darum, alle die vielschichtigen Neuerungen, die das stürmische
20. Jahrhundert mit sich brachte, zu verarbeiten, zu erschließen, vorsichtig
aus der Vielheit des Machbaren die Kostbarkeit des Notwendigen heraus zu filtern
?
Würde so nicht aus wenig plötzlich mehr ?
(Ursprünglich veröffentlicht in "AKM-Informationen" 5/2001)