Die Entdeckung der Langsamkeit I

für Blockflöte, Violoncello, Schlagzeug und computer-generierte Klänge

So, wie mancher ein Buch vielleicht das erste Mal schnell, vielleicht in einem Zug, liest .- längere Schilderungen überspringend, den Handlungsablauf entlangjagend - dagegen bei erneutem Lesen sich für Datails interessiert, minutiöse Beschreibungen auskostet und die feinen Nuancierungen bewundert, mit denen die lebendige, farbige Ideenwelt ausgestattet wurde, so stellt diese Komposition eine solche, zweifache Lektüre durch ein fein strukturiertes Tonhöhenmaterial dar, das einmal durchjagt, einmal vorsichtig durchschritten und ausgelotet wird. Dabei realisieren die Instrumente zusammen mit den zugespielten Computerklängen eine gemeinsame, wunderliche Klangwelt, in der die Bereiche "Harmonie" und " Klangfarbe" zunehmend verschmelzen.

Die gesamte Organisation der Tonhöhen ist mittels Transposition und Umkehrung aus einem mikrotonalen 9-Ton-Akkord gewonnen, und dient sowohl als Basis für die virtuellen Klänge des Computers wie auch für die Instrumentalparts.

Der Computer kam in der Arbeit für dieses Stück, das im Rahmen meiner Studien am IRCAM (Institut de la Recherche et Coordination Acoustique/Musique, Paris) entstand, auf verschiedene Weise zum Einsatz:

• Analyse von Instrumentalklängen, um Modelle für die synthetische Klangerzeugung abzuleiten.

Kontrolle und Durchführung der Klangsynthese: Erleichterung der "Handhabung" von Klang-verwandlungen, -deformationen, -verfremdungen, ... .

"Computer aided composition" (CAC): Erleichterung der Manipulationen von komplexen, mikrotonalen Akkorden, indem aus Hunderten von ähnlichen Akkordgebilden jeweils diejenigen mit bestimmten - vom Komponisten im entsprechenden Augenblick erwünschten - klanglichen Eigenschaften herausgefiltert wurden.

Nachbearbeitung und Montage der künstlichen Klänge des Zuspielbandes.

"Es gibt zwei Arten: einen Blick für die Einzelheiten, der das Neue entdeckt, und einen starren, der nur dem gefaßten Plan folgt und beschleunigt für den Moment. Wenn (letzterer) zur Gewohnheit wird, verliert man die Gangart, das eigene Gehen ist dahin."

(Sten Nadolny: "Die Entdeckung der Langsamkeit", 1983.)