SYMBIOSE für Akkordeon und Elektronik

Die Idee der "Symbiose", des ständigen Zusammenlebens verschiedenartiger Lebewesen zu gegenseitigem Nutzen, inspirierte den Komponisten zu seiner gleichnamigen Komposition. In dem Werk leben Akkordeon, Live-Elektronik und computergenerierte Klänge, die von einem Tonband eingespielt werden, symbiotisch zusammen. Im Vordergrund steht nicht der Dialog zwischen natürlichen und synthetischen Klängen, sondern die Schaffung eines neuen Klangfarbenhorizonts für das Akkordeon .

Johannes Kretz, geboren 1968 in Wien, beschäftigt sich seit seiner Studienzeit an der Wiener Musikhochschule bei Francis Burt und Michael Jarrell mit den Möglichkeiten, die neue Technologien zeitgenössischen Komponisten eröffnen. Die Gelegenheit zu einer intensiven Beschäftigung mit diesem Thema erhielt er 1990 bei dem Sommerkurs "Computer und Art" in Lugano, beim Kurs der IGNM in Kasimierz/Polen und besonders bei seinem Studienaufenthalt am Institut de la Recherche et Coordination Acoustique-Musique (IRCAM) in Paris (1992/93). Beeinflußt wurde er dort vor allem von Marco Stroppa und dessen Konzept der "Klangfarbenharmonie". Johannes Kretz selbst schreibt über seine Musik: "Charakteristisch für meine Kompositionen ist das große Augenmerk auf die Gestaltung von Klangfarbe und Harmonie, die eine untrennbare Einheit bilden. Klänge werden als Akkorde interpretiert, Akkorde so verschmolzen, daß sie als Klangfarben verständlich werden."

Der Komponist war 1994 bis 1996 Assistent von Marco Stroppa, Brian Ferneyhough und Jonathan Harvey beim Workshop für Computermusik des Internationalen Bartok-Seminars Szombathely/Ungarn und ist seit 1996 Lehrbeauftragter für Harmonielehre und Kontrapunkt am Konservatorium der Stadt Wien. Des weiteren koordiniert er die Meisterkurse für Komposition der internationalen Sommerakademie Prag-Wien-Budapest in Reichenau an der Rax. Er erhielt zahlreiche Stipendien, und seine Werke wurden u. a. in Wien, Graz, Frankfurt, Berlin, Bourges, Paris, Katowice und Halle aufgeführt. Besonders zu erwähnen ist in diesem Zusammenhang auch die gestrige Uraufführung des KirchenMusikTheaters ´Elia '98- Unerreichbar, vorübergehendª bei den XX. Internationalen Lemgoer Orgeltagen .

Mit "Symbiose" geht der Komponist einen Weg weiter, den er mit anderen Kompositionen bereits eingeschlagen hat, die sich mit dem Verhältnis von Elektronik und einem Soloinstrument und den daraus resultierenden klanglichen Möglichkeiten beschaftigen. 1990 entstand "Niemandslandverschmelzung für Trompete und Tonband" (UA Lange Nacht der Neuen Klänge 1991) und 1995 "Nocturne für Blockflöte und Live-Electronics". "Symbiose" verarbeitet die Erfahrungen weiter, die während der Arbeit an diesen Stücken gewonnen werden konnten. Der Naturklang des Akkordeons wird wie in "Niemandslandverschmelzung" mit einem Tonband und wie in dem "Nocturne" mit Live-Elektronik in Beziehung gesetzt. Die Akkordeonklänge werden während des Konzerts durch ein Effektgerät manipuliert. Insgesamt kommen sieben verschiedene Effekte zum Einsatz: Rotary, Glissando-Hall, Ringmodulation, Frequenzmodulation, Harmonizer, "Phasegegurgl", "Softphase". Die Effekte wurden speziell für dieses Werk programmiert. Bei der Komposition des Akkordeonparts wurden die klanglichen Veränderungen, die sich durch ihren Einsatz ergeben, bewußt mitkomponiert. So verändert sich zum Beispiel die Akkordeonstimme schlagartig, wenn der Effekt "Glissando-Hall" zum Einsatz kommt. Dominierten zuvor schnelle Figuren, so verwendet der Komponist nun einzelne Klänge, um dem Effekt die Möglichkeit zu geben, seine Wirkung zu entfalten. Oftmals werden auch bewußt geräuschhafte Komponenten mitkomponiert, die sich beispielsweise durch die Transposition von Akkorden um zwei Oktaven tiefer (Effekt Harmonizer) oder durch die starke Beeinflussung des natürlichen Klanges (Effekt Phasegurgel) ergeben. Der gegen Ende wirkende Effekt "Softphase" läßt bestimmte Obertöne des natürlichen Klanges hervortreten, es entsteht eine kantilenenartige Obertonmelodie. Durch ein Pedal, mit dem jeweils ein Parameter des verwendeten Effekts kontrolliert werden kann, besteht zusätzlich die Möglichkeit, das Klangergebnis zu beeinflussen.

Für das Tonband von "Symbiose" wurden Akkordeontöne vom Computer analysiert und nach deren Vorbild synthetische Klänge geschaffen, die wiederum verändert wurden. Somit steht das Tonband nicht im Gegensatz zum Naturklang, sondern verarbeitet die Ideen der Komposition auf einer anderen Ebene. Das Material des Tonbandes wurde mit Hilfe des von Johannes Kretz entwickelten Programms "KLANGPILOT" gewonnen, das dem Komponisten die Orientierung in dem Meer der zur Verfügung stehenden Klänge erleichtern soll.

Durch die Technik der unterschiedlichen Verarbeitung des Instrumentalklanges, durch die Symbiose von Instrument und Elektronik, entsteht ein neues, akkordeonähnliches Instrument, nennen wir es ein Super-Akkordeon. Die Elektronik wird dabei zur Erweiterung der klangfarblichen Möglichkeiten verwendet, und "so gelingt es, eine wunderliche, aber fein geordnete Klangwelt zu schaffen, die den Hörer einlädt, im Bereich der Klangfarbe ähnliche Ordnungen zu entdecken, wie er sie sonst nur im Bereich des harmonischen Aufbaus zu hören gewohnt war. "

Sabine Seuß